Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern/in der Tschechoslowakei

Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern/in der Tschechoslowakei

Organisatoren
Stefan Zwicker, Bonn; Historische Kommission für die böhmischen Länder e.V., München
Ort
Bad Wiessee
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.04.2010 - 11.04.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
René Küpper, München

Wie die letztjährige Jahrestagung „Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern“, die sich mit der Entwicklung bis 1938/1939 befasst hatte1, wurde auch die diesjährige Konferenz der Historischen Kommission für die böhmischen Länder von STEFAN ZWICKER (Bonn) konzipiert. Die Veranstaltung, die vom 9. bis 11. April 2010 im bayerischen Bad Wiessee stattfand, nahm das Verhältnis von Sport und Gesellschaft in Nationalsozialismus und Sozialismus in den Blick. Dabei wurde der Sportbegriff breit gefasst, indem neben den für das 20. Jahrhundert charakteristischen Phänomenen Massensport und Massenpublikum unter anderem auch der Wehrsport einbezogen wurde. Anders als in der Turnbewegung des 19. Jahrhunderts dominierten nun Leistung, Wettkampf und Siegen, es entstanden Sportidole. Der gewählte regionale Rahmen sollte eine Vergleichsperspektive für deutsche oder österreichische Fallbeispiele mit den böhmischen Ländern bieten. Es ist geplant, die Beiträge beider Tagungen in einem Band (in der neuen Publikationsreihe der Historischen Kommission) zu veröffentlichen, der anhand eines breiten Spektrums von Übersichtsdarstellungen und Fallstudien die bestehenden Lücken zum Thema Sport und Gesellschaft in Ost(mittel)europa verringern soll.

Zunächst untersuchte FRANTIŠEK KOLÁŘ (Prag) das Verhältnis von nationaler und staatlicher Dimension in der tschechischen olympischen Bewegung zwischen 1890 und 1990. Vor der staatlichen Selbständigkeit war die olympische Bewegung Bestandteil der Nationalbewegung, die mittels eines eigenen Nationalen Olympischen Komitees die tschechische Nation auf der internationalen Ebene sichtbar machen sollte; in der Tschechoslowakei wurde dagegen die bis dahin bekämpfte autoritäre Position Österreich-Ungarns – nämlich ein gesamtstaatliches olympisches Komitee als Vertreter aller Sportler des Staates ungeachtet ihrer Nationalität zu installieren – übernommen. Anhand zeitgenössischer österreichischer Tagblätter und Wochenschriften unterschiedlicher politischer Couleur, darunter auch der illegalen linken Presse, zeichnete anschließend BETTINA KRATZMÜLLER (Wien) die Berichterstattung über Sabotageakte an der Wiener Station des ersten modernen olympischen Fackellaufes 1936 nach. Hier habe der Sport allen Akteuren eindeutig als Bühne für politische Aktion gedient: Vor allem die Anhänger der illegalen nationalsozialistischen Partei hätten die beabsichtigte staatliche Selbstinszenierung verdorben, während die offiziell fälschlich als Urheber der Demonstrationen beschuldigten Linken ebenfalls nicht untätig gewesen seien. STEFAN ZWICKER zeichnete die Bedeutung des Fußballs in der Tschechoslowakei nach, die einerseits als „unpolitische“ Unterhaltung galt, aber andererseits auch zum Propagandaobjekt der Diktaturen gemacht werden konnte. Durch die von großen Zuschauermengen verfolgten Spiele der Nationalmannschaft habe Fußball der Sichtbarmachung des neuen Staates gedient, obwohl internationale Turniere und der Mitropacup gelegentlich von politisch motivierten Tumulten, Ausschreitungen und in der Folge diplomatischen Verwicklungen begleitet waren. Innerstaatlich habe Fußball als Massensport in der multiethnischen Gesellschaft aber eher verbindend als trennend gewirkt. Die unterschiedliche Behandlung des Fußballs durch die nationalsozialistische Besatzungsmacht, die zwar die sudetendeutschen Vereine gleichschaltete und die jüdischen Vereine auflöste, die tschechischen Gruppen aber als Fassade einer Scheinnormalität bestehen ließ, und den zum Teil umfassenderen Gleichschaltungsmaßnahmen der Kommunisten wären, wie auch die Diskussion zeigte, als weiterer Ansatz zum Diktaturvergleich geeignet.

Am Beispiel der Jugendfußballabteilung von Eintracht Frankfurt erläuterte MATHIAS THOMA (Frankfurt), wie den Sportvereinen durch die Monopolisierung der außerschulischen Jugenderziehung beim nationalsozialistischen Deutschen Jungvolk bzw. der Hitlerjugend zwar der Nachwuchs entzogen wurde, sie aber durch die ihnen anvertraute zentrale Organisation des Sportbetriebs gewisse Freiräume erhalten (bis 1936 Teilnahme jüdischer Jugendlicher) und die Vereinsidentität weiter pflegen konnten. GERD FALKNER (Planegg) legte die Bedeutung sudetendeutscher Wintersportler als militärische Helden in der NS-Propaganda dar. Im Wintersport sei die Rhetorik bereits in den 1920er Jahren militarisiert worden, herausragende Leistungen sudetendeutscher Skisportler seien bereits in der Zwischenkriegszeit als Beweis für den Behauptungswillen des Deutschtums sowie zur öffentlichen Verbreitung sudetendeutscher Anliegen instrumentalisiert worden, woran angeknüpft werden konnte. DIETHELM BLECKING (Freiburg) referierte über den jüdischen Boxer Szapsel Rotholc, der, anders als andere prominente jüdische Sportler, weder als durch die Nationalsozialisten instrumentalisierter "Gladiator" noch als Widerstandskämpfer umkam, sondern den Krieg als Mitglied der jüdischen Ghettopolizei überleben konnte. In seinem Fall stelle sich die Frage, ob er Kollaborateur, Widerständler oder beides gewesen sei, womit Blecking eindrucksvoll die Bedeutung des Biografischen für historische Perspektiven und Fragestellungen verdeutlichte.

Im Panel zu Sport im Sozialismus zeigte PETR ROUBAL (Prag) auf instruktive Weise, wie sich die politische Symbolik der tschechoslowakischen Spartakiaden im Laufe der Zeit veränderte. Die sehr kostspieligen Spartakiaden hätten bereits in der Sokol-Tradition Vorläufer gehabt und die Darstellung des nationalen bzw. Staatskörpers betrieben, indem in einer Art „social geometry“ Individuen planmäßig bewegt und durch die Entstehung eines großen Gesamtbildes die Individuen negiert worden seien. Die von der Geheimpolizei gut dokumentierten ambivalenten Reaktionen der Teilnehmer ließen die Spartakiaden, so Roubal, angesichts des Wandels von Choreographie und Symbolik als „weird dialog between the régime and the powerless“ erscheinen. Der Beitrag wurde lebhaft diskutiert. MARTIN PELC (Opava/Troppau) zeigte in seinem Vortrag über die Strukturwandlungen der Touristik bzw. das organisierte Wandern in der Tschechoslowakei 1948-1989, wie sie organisatorisch zentralisiert und in eine Sportart verwandelt wurde, die als „Leistungstouristik“ bzw. „Leibeserziehung“ der Gesundheit, Erziehung und Bildung der Bürger dienen sollte. Neben der Ideologisierung sei teilweise auch eine wehrsportliche Komponente eingefügt worden.

Anschließend bot RINGO WAGNER (Magdeburg) anhand der „DDR-Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST) einen Überblick über Wehrsport und länderübergreifende Kooperation in der DDR und Č(S)SR. Die GST sei zwar ein paramilitärischer Verband in Wehrsporttradition gewesen, habe aber sowohl Leistungs- als auch Alltagssport in länderübergreifendem Konkurrenzkampf im so genannten sozialistischen Lager als auch bei Welt- und Europameisterschaften betrieben. Hier scheint das Gewinnen-Wollen oft stärker gewesen zu sein als die sozialistische Solidarität und Zusammenarbeit. REINER JUST (München) analysierte das Radrennen „Friedensfahrt“ (závod míru), das als internationales Amateur-Etappenrennen wohl auch eine sozialistische Alternative zur Tour de France darstellen sollte. Neben „Völkerverständigung“ scheint auch hier nationales Prestige eine erhebliche Rolle gespielt zu haben, das die Identifikation der Bürger mit ihrem Land steigern sollte. Möglicherweise sollte die besonders herausgehobene Berichterstattung der Grenzüberquerung zwischen der DDR und Polen auch dazu beitragen, die neue deutsche Ostgrenze auf dem indirekten Weg der Sportberichterstattung zu popularisieren und in den Köpfen zu verankern.

In der Abschlussdiskussion wurde hervorgehoben, dass im sozialistischen System die sportliche Orientierung auf Leistung und Konkurrenz ambivalent wirkte, gerade in Bezug auf die proklamierte Völkerverständigung. Die Tagung zeigte anhand eines breiten Themenspektrums, wie Sport im 20. Jahrhundert als Bühne für Individuen und Großgruppen wie Staat oder Arbeiterklasse diente. Andererseits war Sport immer auch eine Projektionsfläche für politische und gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen. Näher untersuchen ließe sich darüber hinaus der Komplex Professionalisierung und Kommerzialisierung sowie das ambivalente Verhältnis von Masse und Star, der emanzipatorischen Wirkung von Massensport und der Verehrung von herausragenden Einzelnen, die durchaus Züge eines Heldenkultus annehmen kann. Sport, das haben die Beiträge der Tagung gezeigt, war und ist ein untersuchenswertes gesellschaftliches Phänomen, ein ambivalenter, weil politisierbarer Erfahrungswert und zudem als (aktiver wie passiver) Massensport auch unter Diktaturen eine wichtige Selbsterfahrung.

Konferenzübersicht:

ROBERT LUFT (München) / STEFAN ZWICKER (Bonn): Begrüßung und Einleitung

Sektion I: Entwicklungslinien des organisierten Sports unter staatlicher Einflussnahme: Moderation: DIETHELM BLECKING (Freiburg im Breisgau)

FRANTIŠEK KOLÁŘ (Prag): Die tschechische olympische Bewegung zwischen Autonomie und staatlicher Steuerung

BETTINA KRATZMÜLLER (Wien): „Spiel mit dem Feuer“: Sabotageakte gegen die Olympia-Feier 1936 in Wien im Spiegel zeitgenössischer österreichischer Tagblätter und Wochenschriften

STEFAN ZWICKER (Bonn): Fußball in den böhmischen Ländern/ der Tschechoslowakei 1938-1989 - die beliebteste Sportart zwischen ‚unpolitischer’ Unterhaltung und ihrer Rolle als Propagandaobjekt der Diktaturen

Sektion II: Widerstand, Anpassung und Propaganda unter dem Nationalsozialismus: Moderation: LORENZ PEIFFER (Hannover)

MATHIAS THOMA (Frankfurt am Main): Jugendfußball unter dem NS-Regime am Beispiel Frankfurts

GERD FALKNER (Planegg): Sudetendeutsche Wintersportler und ihre Rolle als militärische Helden in der NS-Propaganda

DIETHELM BLECKING (Freiburg im Breisgau): Der Champ im Ghetto: Die Geschichte des jüdischen Boxers Szapsel Rotholc

Sektion III : Sport und sein Propagandapotential im Sozialismus: Moderation: STEFAN ZWICKER (Bonn)

PETR ROUBAL (Prag): Political Symbolism of Czechoslovak Spartakiads

MARTIN PELC (Opava-Troppau): Strukturwandlungen der Touristik in der Tschechoslowakei 1948-1989

RINGO WAGNER (Magdeburg): Wehrsport und länderübergreifende Kooperation in der DDR und ČSSR

REINER JUST (München): Die Friedensfahrten (závody míru) als internationales Ereignis im kommunistischen Mitteleuropa

Abschlussdiskussion zu den Tagungen 2009 und 1010 sowie zu künftigen Forschungsperspektiven

Anmerkung:
1 Vgl. den Tagungsbericht von Stefan Wiederkehr, Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern/in der Tschechoslowakei, Teil 1: Sport in einer multiethnischen Gesellschaft (19. Jahrhundert bis 1938/1939), in: Bohemia 49/1 (2009) 207-209 bzw. auch Tagungsbericht Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern/in der Tschechoslowakei, Teil 1: Sport in einer multiethnischen Gesellschaft (19. Jahrhundert bis 1938/39). Jahrestagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder. 24.04.2009-26.04.2009, Dresden, in: H-Soz-u-Kult, 06.07.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2674> (06.09.2010).


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